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Ausführliche Falldarstellung: Luke – Selbstmitgefühl bei schwerem Trauma und Scham

Einleitung: Luke wird im Text als Fallbeispiel angeführt, um spezifische Herausforderungen und therapeutische Ansätze bei der Integration von Selbstmitgefühlspraktiken für Klienten mit schweren Traumatisierungen, insbesondere aus der Kindheit, zu illustrieren. Sein Fall beleuchtet die Notwendigkeit einer sorgfältigen Anpassung von Interventionen, die zentrale Rolle der therapeutischen Beziehung und die Arbeit mit tief sitzender Scham.


Hintergrund und Herausforderung (aus Quelle 450-452): Luke ist ein Überlebender schwerer Kindesmisshandlung. Im Rahmen seiner Therapie wurde, wie im MSC-Kontext üblich, die Möglichkeit von Selbstmitgefühlsübungen erwogen. Eine spezifische Herausforderung trat zutage, als eine gängige, oft als hilfreich erlebte Geste des Selbstmitgefühls – das sanfte Legen einer Hand auf den Herzbereich zur Selbstberuhigung – bei Luke eine massive negative Reaktion auslöste.

  • Der Trigger: Allein der Gedanke daran, diese Geste auszuführen, um sich selbst Trost zu spenden, wirkte als starker Trigger.

  • Die Reaktion: Dies aktivierte extrem laute, feindselige innere Stimmen. Diese Stimmen beschimpften ihn als „Müll“ und sprachen ihm das Recht zu leben ab („hätte es nicht verdient zu leben“). Dies verdeutlicht, wie tief der internalisierte Missbrauch und die damit verbundene Selbstablehnung verwurzelt waren und wie Selbstfürsorge als unverdient oder sogar gefährlich erlebt wurde.

  • Therapeutische Konsequenz: Angesichts dieser heftigen Reaktion erkannte der Therapeut, dass das Forcieren dieser oder ähnlicher häuslicher Übungen kontraproduktiv und potenziell retraumatisierend wäre. Die Priorität verschob sich eindeutig darauf, die therapeutische Beziehung selbst als sicheren und unterstützenden Raum zu gestalten und auf spezifische Selbstmitgefühlsübungen für zu Hause vorerst vollständig zu verzichten. Dies unterstreicht das Prinzip „Sicherheit zuerst“ und die Notwendigkeit, Interventionen individuell anzupassen, anstatt einem Standardprotokoll zu folgen.


Arbeit mit Scham und dem Wunsch nach Liebe (aus Quelle 493-496): In einer anderen Therapiesitzung manifestierte sich Lukes tiefe Scham erneut.

  • Ausgangslage: Luke erklärte (wieder einmal), dass er sich wie „Müll“ fühle, begründet durch die fortwährenden Angriffe seiner inneren Stimmen. Dies zeigt die persistente Identifikation mit dem internalisierten negativen Selbstbild.

  • Therapeutische Intervention (Fokus auf den unschuldigen Wunsch): Statt direkt gegen die Stimmen anzugehen oder das Gefühl zu validieren, lenkte der Therapeut die Aufmerksamkeit auf eine tiefere Ebene, die oft hinter der Scham verborgen liegt: den universellen, unschuldigen Wunsch, geliebt zu werden. Der Therapeut formulierte dies als Frage und Vermutung: „Selbst wenn du dich wie Müll fühlst, frage ich mich, ob du dir nicht immer gewünschthast, geliebt zu werden, auch wenn das nicht der Fall war.“ Diese Intervention zielt darauf ab, Luke mit einem fundamentalen, gesunden menschlichen Bedürfnis zu verbinden, das dem Trauma und der Scham zugrunde liegt und von diesen überlagert wird.

  • Lukes Reaktion: Zuerst reagierte Luke nur mit einem leichten Nicken. Als der Therapeut behutsam nachhakte und betonte, dass dieser Wunsch nach Liebe trotz allem Erlebten immer ein Teil von ihm war und niemals aufhörte, reagierte Luke emotional: ihm kamen die Tränen und er antwortete vorsichtig mit „Ja“.

  • Der Durchbruch: Obwohl Luke sich weiterhin der Liebe unwürdig fühlte, ermöglichte die Anerkennung dieses tiefen, überlebenden Wunsches eine entscheidende Verschiebung. Es verband ihn mit seiner grundlegenden Menschlichkeit und Würde jenseits der Scham. Dies führte zu einer neuen Entschlossenheit: Er entschied sich, die Liebe und das Mitgefühl, die ihn umgaben (implizit in der therapeutischen Beziehung), bewusst an sich heranzulassen – als einen ersten, gangbaren Schritt in Richtung Selbstmitgefühl, auch wenn direktes Selbstmitgefühl noch nicht möglich war. Die Verbindung zu seinem Überlebenswillen („Er hatte als Kind überlebt“) stärkte seine Motivation, diesen Wunsch nicht aufzugeben.


Zusammenfassende Erkenntnisse aus Lukes Fall:

  1. Gefahr von Triggern: Selbstmitgefühlsübungen können bei schwer Traumatisierten heftige negative Reaktionen (Backdraft, Aktivierung feindseliger innerer Anteile) auslösen.

  2. Individualisierung: Eine „One-size-fits-all“-Herangehensweise ist unangebracht. Interventionen müssen extrem sorgfältig an die Belastbarkeit und die spezifischen Wunden des Klienten angepasst werden.

  3. Priorität der Sicherheit: Die Schaffung und Aufrechterhaltung eines sicheren therapeutischen Rahmens hat Vorrang vor dem Durchführen spezifischer Übungen.

  4. Scham als Kernproblem: Lukes Fall illustriert die zerstörerische Macht internalisierter Scham („Ich bin Müll“), die oft aus Missbrauch resultiert.

  5. Ansatzpunkt bei Scham: Die Arbeit über den unschuldigen, universellen Wunsch nach Liebe und Verbundenheit kann einen Zugang schaffen, wenn direkte Selbstzuwendung blockiert ist.

  6. Empfangenes Mitgefühl als Brücke: Wenn direktes Selbstmitgefühl (noch) nicht möglich ist, kann das bewusste Annehmen von Mitgefühl aus der therapeutischen Beziehung ein wichtiger Zwischenschritt sein, um die Erfahrung von Wärme und Akzeptanz zu ermöglichen und langfristig innere Ressourcen aufzubauen.


Lukes Fall dient somit als eindringliche Erinnerung an die Komplexität der Arbeit mit Trauma und Scham und zeigt gleichzeitig Wege auf, wie die Prinzipien des Selbstmitgefühls – behutsam und relational angewandt – tiefgreifende Heilungsprozesse auch unter schwierigsten Bedingungen unterstützen können.

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