Frau M., 42 Jahre alt, hat in den letzten sechs Monaten vermehrt Schwierigkeiten, ihren Alltag zu bewältigen. Sie berichtet von Antriebslosigkeit, innerer Unruhe und Schlafstörungen. Frau M. ist berufstätig und hat zwei schulpflichtige Kinder. Sie schildert zunehmende Konflikte in der Familie, insbesondere mit ihrem älteren Sohn, der in die Pubertät kommt. Die Konflikte belasten sie stark, und sie empfindet eine anhaltende Gefühlslage von Hilflosigkeit. Zudem hat Frau M. seit einem Jahr Schwierigkeiten, sich von ihrer kürzlichen Trennung von ihrem Ehemann zu erholen. Sie schildert immer wiederkehrende Gefühle von Trauer, Wut und Verlust. Die Anforderungen im Beruf und im Haushalt überfordern sie zunehmend. Sie hat sich an den Therapeuten gewandt, um ihre Belastung zu mindern und ihren Alltag besser bewältigen zu können.
Der Therapeut arbeitet mit einem integrativen Ansatz und versucht zunächst, eine vertrauensvolle Beziehung zu Frau M. aufzubauen. Er verwendet Elemente der personzentrierten Gesprächstherapie, um Frau M. Raum für ihre Gefühle zu geben. Die Gespräche konzentrieren sich auf das Verstehen ihrer aktuellen Lebenslage sowie auf das Finden von Ressourcen in ihrem Umfeld. In einer Sitzung spricht Frau M. darüber, dass sie das Gefühl hat, in ihrem Leben keine Kontrolle mehr zu haben. Daraufhin arbeitet der Therapeut mit ihr an der Identifikation von Bereichen, in denen sie ihre Selbstwirksamkeit wieder stärken könnte.
Zusätzlich nutzt der Therapeut kognitive verhaltenstherapeutische Methoden, um Frau M. zu helfen, ihre negativen Gedankenmuster zu erkennen und zu überarbeiten. Hierzu führen sie gemeinsam ein Gedankenprotokoll, das Frau M. hilft, ihre Gedanken zu reflektieren und alternative, weniger belastende Denkmuster zu entwickeln. In weiteren Sitzungen besprechen sie auch die Dynamik der familiären Konflikte und reflektieren mögliche Verhaltensänderungen im Umgang mit ihrem Sohn. Um eine langfristige emotionale Entlastung zu erzielen, werden auch Techniken aus der systemischen Therapie genutzt, die Frau M. dabei unterstützen, ihre Position innerhalb der Familie und die zugrunde liegenden Beziehungsstrukturen besser zu verstehen.
Supervision aus Sicht eines Fachgremiums
Personzentrierter Ansatz: Das Fachgremium würdigt die empathische und wertschätzende Haltung des Therapeuten, die dazu beigetragen hat, dass Frau M. sich öffnen konnte. Es wird jedoch angeregt, noch mehr Raum für Frau M.s Selbsterforschung zu lassen und ihr weniger konkrete Ratschläge zu geben, um ihre eigene Entscheidungsfähigkeit zu stärken. Der Fokus sollte darauf liegen, ihr zu helfen, die eigenen Gefühle und Bedürfnisse klarer wahrzunehmen, um daraus Handlungsmöglichkeiten abzuleiten.
Systemische Perspektive: Aus systemischer Sicht wird die Arbeit mit der Familienstruktur positiv bewertet. Die Reflexion der Konfliktdynamik mit ihrem Sohn wird als wertvoller Ansatz gesehen, um Verhaltensmuster innerhalb der Familie zu erkennen. Das Fachgremium regt jedoch an, Frau M. vermehrt zu ermächtigen, Familienmitglieder aktiv in den therapeutischen Prozess einzubeziehen, beispielsweise durch Familiengespräche oder Aufstellungen. Dies könnte dazu beitragen, bestehende Verhaltensmuster aufzubrechen und neue, konstruktive Kommunikationsformen zu etablieren.
Verhaltenstherapeutische Perspektive: Das Gremium hebt hervor, dass die Arbeit mit dem Gedankenprotokoll effektiv zur Reduktion belastender Gedanken beiträgt. Der Einsatz verhaltenstherapeutischer Methoden wird als sinnvoll erachtet, um Frau M. dabei zu unterstützen, ihre kognitiven Verzerrungen zu erkennen und alternative Sichtweisen zu entwickeln. Die Empfehlung lautet, zusätzlich konkrete Verhaltensübungen einzubauen, um Frau M. Erfolgserlebnisse im Alltag zu ermöglichen und ihre Selbstwirksamkeit zu stärken.
Tiefenpsychologischer Ansatz: Der tiefenpsychologische Therapeut weist darauf hin, dass es hilfreich sein könnte, die unbewussten Konflikte und möglicherweise verdrängten Gefühle aus der Trennungsgeschichte stärker in den Fokus zu nehmen. Die aktuelle Hilflosigkeit könnte Ausdruck eines tieferliegenden inneren Konflikts sein, der aus der Kindheit oder früheren Beziehungserfahrungen stammt. Eine genauere Bearbeitung dieser Themen könnte Frau M. dabei helfen, die gegenwärtige Situation besser zu verstehen und emotional zu verarbeiten.
Professor für Spieltheorie: Der Professor für Spieltheorie regt an, in der Therapie auch spieltheoretische Aspekte zu betrachten, insbesondere im Umgang mit familiären Konflikten. Frau M. könnte davon profitieren, die Interaktionen mit ihrem Sohn als eine Art strategisches Spiel zu betrachten, bei dem beide Seiten bestimmte Ziele und Strategien verfolgen. Das Verständnis dieser Dynamik könnte ihr helfen, neue Lösungswege zu entwickeln, bei denen beide Parteien gewinnen.
ICD-10 Diagnose
Basierend auf den beschriebenen Symptomen könnten folgende ICD-10 Diagnosen für Frau M. relevant sein:
F32.1 Mittelgradige depressive Episode: Frau M. zeigt Symptome wie Antriebslosigkeit, Schlafstörungen und Überforderung, die auf eine depressive Episode hindeuten. Die Dauer von sechs Monaten und die Beeinträchtigung im Alltag sprechen für eine mittlere Ausprägung.
F43.21 Anpassungsstörung mit depressiver Reaktion: Die Trennung von ihrem Ehemann stellt einen bedeutsamen Stressfaktor dar, der in Zusammenhang mit den aktuellen Symptomen steht. Die wiederkehrenden Gefühle von Trauer und Hilflosigkeit könnten auf eine Anpassungsstörung hinweisen.
Z63.0 Probleme in der Beziehung zu Partner oder Eltern: Die Trennung vom Partner und die familiären Konflikte stellen einen weiteren bedeutenden psychosozialen Stressfaktor dar, der bei der Diagnosestellung zu berücksichtigen ist.