Rainer ist ein 42-jähriger Mann, der in einer leitenden Position bei einem international agierenden Unternehmen arbeitet. Er beschreibt sich selbst als jemanden, der hohe Ansprüche an sich stellt und der, trotz der Anforderungen seiner Position, immer wieder daran arbeitet, das Wohl seiner Familie sicherzustellen. Rainer lebt mit seiner Partnerin und seinen Kindern zusammen, wobei das Familienleben von einem starken Gefühl der Verantwortung, aber auch von Kommunikationsschwierigkeiten geprägt ist. Die Dynamik in der Familie hat sich durch gesundheitliche Herausforderungen seiner Partnerin und seine eigenen beruflichen Belastungen noch komplexer gestaltet. Diese Belastungen schlagen sich in zunehmenden Spannungen und einem Gefühl der Distanz nieder.
Beruflich befindet sich Rainer in einer kräfteraubenden Situation. Er arbeitet in einer Matrixstruktur, was dazu führt, dass er in vielen Meetings anwesend sein muss, die oft ohne konstruktive Ergebnisse verlaufen. Besonders die rigiden Anforderungen und der autoritäre Stil seines Vizepräsidenten führen dazu, dass Rainer häufig entwertet und unter Druck gesetzt wird. Die Unternehmenskultur ist durch ständige Zielvorgaben, starke Hierarchien und eine gewisse Rücksichtslosigkeit geprägt. Rainer fühlt sich in einer Rolle gefangen, in der er wenig Handlungsspielraum hat, obwohl von ihm ständig Spitzenleistungen erwartet werden. Der permanente berufliche Stress hat sich zunehmend auch in seiner körperlichen Gesundheit bemerkbar gemacht. Er leidet unter Magenkrämpfen und Herzflattern, besonders in Zeiten der erhöhten beruflichen Anspannung. Diese Symptome sind für ihn eine große Belastung und verstärken das Gefühl der Ohnmacht.
Privat empfindet Rainer immer wieder, dass es ihm schwerfällt, die positiven Momente wirklich zu genießen. Obwohl er gemeinsame Zeit mit seiner Familie, wie das Tennisspielen mit seinen Kindern, als schön beschreibt, fehlt ihm das tiefe Gefühl der Zufriedenheit, das er früher kannte. Diese emotionalen Blockaden könnten auf die medikamentöse Behandlung zurückzuführen sein, die ihm hilft, depressive Symptome und emotionale Tiefs zu regulieren, jedoch auch seine positiven Empfindungen dämpft. Er steht in einem ständigen Spannungsverhältnis zwischen der Notwendigkeit, Medikamente einzunehmen, und dem Wunsch, wieder intensiver zu fühlen.
Ein weiterer Aspekt, der Rainer belastet, ist seine Selbstwahrnehmung. Er beschreibt sich als jemanden, der sehr kritisch mit sich selbst umgeht und Schwierigkeiten hat, Lob anzunehmen. Trotz seiner Erfolge und seiner Fähigkeiten fällt es ihm schwer, sich selbst als wertvoll wahrzunehmen. Diese Selbstkritik wird durch die beruflichen Anforderungen und die mangelnde Würdigung von Seiten der Vorgesetzten noch verstärkt. Rainer versucht, mit Techniken wie „Ankern“, also der bewussten Verknüpfung positiver Emotionen mit bestimmten Handbewegungen, gegen diese emotionalen Herausforderungen anzugehen, empfindet jedoch auch diese Ansätze als schwer greifbar.
Die berufliche Situation ist für Rainer auch deshalb eine Herausforderung, weil die Unternehmenskultur wenig Raum für Schwäche lässt. Längerfristige Krankenstände gelten als problematisch, und auch Rainer selbst sieht für sich keine Möglichkeit, sich über längere Zeit beruflich zurückzuziehen, um sich zu erholen. Er befindet sich in einem System, das ständige Leistungsbereitschaft verlangt, und hat das Gefühl, keine echten Auswege zu haben. Die Konsequenz daraus ist eine chronische Überforderung, die sich sowohl auf seine berufliche Leistung als auch auf sein privates Wohlbefinden auswirkt.
Therapeutische Interventionen aus verschiedenen Perspektiven
Personzentrierte Therapie (PZT):
Empathische Beziehung: Im Rahmen der PZT ist die therapeutische Beziehung der Schlüssel zur Veränderung. Der Therapeut könnte Rainer eine stabile, empathische Atmosphäre bieten, in der er sich sicher fühlt, über seine Sorgen zu sprechen. Dies könnte besonders wichtig sein, da Rainer beruflich oft das Gefühl hat, nicht wertgeschätzt zu werden. Der Fokus liegt auf der bedingungslosen positiven Wertschätzung, um Rainer Raum zu geben, seine Gefühle ohne Angst vor Bewertung zu teilen.
Erleben von Emotionen fördern: Dem Therapeuten könnte es helfen, Rainer dabei zu unterstützen, die medikamentöse Dämpfung seiner Gefühle besser zu akzeptieren, während sie gemeinsam neue Wege zur Intensivierung der emotionalen Erlebnisse finden, etwa durch gezielte Imaginationstechniken.
Kognitive Verhaltenstherapie (KVT):
Stressbewältigung und Kognitive Umstrukturierung: Die KVT könnte helfen, Rainers negative Gedanken über seine berufliche Situation zu identifizieren und herauszufordern. Beispielsweise könnte der Therapeut mit Rainer an der Überzeugung arbeiten, dass er beruflich keine Auswege hat, und ihn dazu befähigen, alternative Sichtweisen zu entwickeln, die weniger von Ohnmacht geprägt sind.
Verhaltensexperimente: Der Therapeut könnte mit Rainer Verhaltensexperimente entwickeln, um dessen Selbstwertgefühl zu steigern. Zum Beispiel könnte Rainer sich kleine berufliche oder private Aufgaben setzen, die erreichbar sind, und danach bewusst reflektieren, welche positiven Eigenschaften und Fähigkeiten er dabei genutzt hat.
Achtsamkeit und Akzeptanzbasierte Ansätze (ACT, MBSR):
Achtsamkeitspraxis: Achtsamkeitsbasierte Interventionen könnten hilfreich sein, um Rainers Umgang mit dem ständigen beruflichen Druck zu verbessern. Eine regelmäßige Meditation oder Atemübungen könnten Rainer helfen, im Moment zu bleiben und den Stress weniger als überwältigend zu empfinden.
Akzeptanz von Gefühlen: Ein zentrales Ziel wäre es, Rainer zu unterstützen, die emotionalen Höhen und Tiefen zu akzeptieren, ohne sie zu bewerten oder zu vermeiden. Diese Akzeptanz könnte Rainers Selbstmitgefühl stärken und ihm helfen, besser mit seinen Belastungen umzugehen.
Systemische Therapie:
Familiengespräche: Da Rainers Beziehung zu seiner Partnerin und die Kommunikationsschwierigkeiten in der Familie eine wichtige Rolle spielen, könnten auch gemeinsame Sitzungen hilfreich sein. Der Fokus könnte darauf liegen, offene und wertschätzende Kommunikation zu fördern und wieder mehr Nähe und Verständnis füreinander zu schaffen.
Rollenklärung: Es könnte zudem sinnvoll sein, Rainers Rolle innerhalb der Familie zu klären. Welche Erwartungen stellt er an sich selbst als Partner und Vater? Welche Erwartungen hat die Familie an ihn? Dies könnte helfen, die Verantwortungen und Rollen klarer und damit weniger belastend zu gestalten.
Körperorientierte Verfahren:
Progressive Muskelentspannung: Körperliche Symptome wie Magenkrämpfe und Herzflattern könnten durch Entspannungstechniken wie progressive Muskelentspannung gemindert werden. Diese Methode könnte Rainer helfen, Spannungen abzubauen und körperliche Signale von Stress frühzeitiger zu erkennen.
Atemarbeit: Tiefe Atemübungen könnten eine weitere Methode sein, um Rainers körperliche Symptome zu reduzieren und ein Gefühl der Kontrolle über seinen Körper zurückzugewinnen.
Coaching-Perspektive:
Zielentwicklung und Priorisierung: Ein Coaching-Ansatz könnte Rainer helfen, berufliche und persönliche Ziele klarer zu definieren und diese in kleinere, erreichbare Schritte zu unterteilen. Dies könnte ihm das Gefühl geben, wieder mehr Kontrolle zu haben und nicht ausschließlich von äußeren Anforderungen getrieben zu sein.
Grenzen setzen: Ein zentrales Coaching-Thema könnte die Entwicklung von Strategien sein, wie Rainer seine Grenzen besser kommunizieren und wahren kann – sowohl beruflich als auch privat. Beispielsweise könnte er lernen, „Nein“ zu sagen, ohne dabei Schuldgefühle zu entwickeln, um langfristig seine eigene Gesundheit zu schützen.
Stärkung der Führungskompetenzen: Da Rainer eine leitende Position innehat, könnte das Coaching auch dabei helfen, seine Führungskompetenzen zu stärken. Hier könnte der Fokus darauf liegen, wie er in einem schwierigen Umfeld seine Mitarbeiter motiviert und eine positive Teamkultur schafft, ohne sich selbst auszubrennen.
Fragen für die Ausbildungsgruppe
Therapeutische Beziehung und Empathie: Wie kann der Therapeut angesichts der komplexen beruflichen und privaten Herausforderungen von Rainer eine stabile und vertrauensvolle therapeutische Beziehung aufbauen, die ihm Sicherheit bietet? Welche Interventionen wären hier geeignet, um Empathie zu zeigen und Rainer in seinem Erleben zu unterstützen?
Umgang mit beruflichem Stress: Welche therapeutischen Techniken könnten hilfreich sein, um Rainer dabei zu helfen, mit dem beruflichen Stress besser umzugehen? Inwiefern könnten Methoden der kognitiven Verhaltenstherapie oder der Achtsamkeitspraxis in den Therapieprozess integriert werden?
Selbstwert und Selbstakzeptanz: Rainer zeigt deutliche Schwierigkeiten, positive Rückmeldungen anzunehmen und seinen Selbstwert zu stärken. Welche Interventionen könnten geeignet sein, um sein Selbstwertgefühl zu fördern? Welche Rolle könnte die Arbeit mit Selbstmitgefühl dabei spielen?
Medikamentöse Behandlung und emotionale Dämpfung: Rainer empfindet eine emotionale Dämpfung durch die Medikamente, die er einnimmt. Wie könnte der Therapeut mit dieser Problematik umgehen? Welche Möglichkeiten gibt es, um Rainer zu unterstützen, wieder intensiver zu fühlen, ohne die Stabilität zu gefährden?
Familiendynamik und Kommunikation: Rainer hat Schwierigkeiten, konstruktive Gespräche mit seiner Partnerin zu führen und empfindet oft eine emotionale Distanz. Welche Techniken könnten ihm helfen, die Kommunikation mit seiner Partnerin zu verbessern und die emotionale Nähe wiederherzustellen?
Achtsamkeit und Körperarbeit: Rainer leidet unter körperlichen Symptomen wie Magenkrämpfen und Herzflattern. Wie könnte der Therapeut achtsamkeitsbasierte oder körperorientierte Ansätze nutzen, um Rainer zu helfen, diese Symptome besser zu regulieren und seine Körperwahrnehmung zu verbessern?
Ressourcenaktivierung: Welche Ressourcen lassen sich bei Rainer identifizieren, und wie könnte der Therapeut diese stärker aktivieren? Wie könnte Rainer darin unterstützt werden, positive Erfahrungen im Alltag bewusster zu erleben und für sich zu nutzen?
Struktur der beruflichen Rolle und Selbstfürsorge: Wie könnte der Therapeut Rainer helfen, innerhalb seiner beruflichen Rolle eine bessere Balance zwischen Anforderungen und Selbstfürsorge zu finden? Welche Möglichkeiten der Grenzziehung und Priorisierung wären hier denkbar?
Langfristige Perspektive und Vision: Rainer hat Schwierigkeiten, eine positive langfristige Perspektive zu entwickeln. Wie könnte der Therapeut ihm helfen, eine positive Vision für seine Zukunft zu entwickeln und Ziele zu setzen, die ihm Hoffnung geben und ihn motivieren?
Diese Fallgeschichte und die dazu gehörigen Fragestellungen bieten eine umfassende Grundlage, um die Herausforderungen von Rainer zu analysieren und gemeinsam therapeutische Interventionen zu erarbeiten, die ihm helfen könnten, wieder mehr Wohlbefinden und Stabilität zu erreichen.
Basierend auf der Fallbeschreibung und den beschriebenen Symptomen und Herausforderungen von Rainer, könnten verschiedene psychische und psychosomatische Diagnosen gemäß der ICD-10 (Internationale Klassifikation der Krankheiten, 10. Revision) in Betracht gezogen werden. Im folgenden Abschnitt werden mögliche Diagnosen (z-Diagnosen) genannt, die eine Ziffer mit dem Präfix „Z“ haben und für die Beschreibung von Lebensumständen oder psychosozialen Belastungen relevant sind:
Mögliche Z-Diagnosen nach ICD-10
Z56.3 Belastung durch unangenehme ArbeitsbedingungenDiese Diagnose könnte angewandt werden, da Rainer in seiner beruflichen Rolle einer hohen Stressbelastung, starkem Druck und autoritären Anforderungen ausgesetzt ist. Er beschreibt seine berufliche Situation als extrem belastend und fühlt sich in seiner Führungsrolle entwertet und eingeschränkt.
Z63.0 Probleme in der Beziehung zu Partner oder EhepartnerRainer beschreibt Kommunikationsschwierigkeiten und emotionale Distanz zu seiner Partnerin. Diese könnten mit einer psychischen Belastung durch Probleme in der Partnerschaft assoziiert werden.
Z63.7 Andere spezifische Probleme im Zusammenhang mit der primären BezugspersonDie Schwierigkeiten im Familienleben und die Herausforderungen, die sich aus der gesundheitlichen Situation seiner Partnerin ergeben, könnten als psychosoziale Belastung interpretiert werden, welche die familiäre Dynamik beeinträchtigen.
Z73.0 Burn-out (Erschöpfungssyndrom)Rainer beschreibt starke körperliche und psychische Erschöpfung, die sich in Symptomen wie Magenkrämpfen und Herzflattern äußert. Burn-out ist keine eigenständige Diagnose im ICD-10, wird aber als ein Zustand schwerer Belastung unter Z73.0 beschrieben.
Z55.0 Probleme im Zusammenhang mit der Beschäftigung und ArbeitslosigkeitRainers berufliche Belastungen und die strengen Hierarchien in der Firma, die ihm keine Auszeiten erlauben, könnten unter diese Diagnose fallen. Die Anforderungen und die Unternehmenskultur führen bei ihm zu einem starken Gefühl der Überforderung.
Z73.6 Einschränkung der Fähigkeit zur LebensbewältigungDie chronische Überforderung und die Schwierigkeiten, eine Balance zwischen den Anforderungen von Arbeit und Familie zu finden, deuten darauf hin, dass Rainer Probleme mit der Lebensbewältigung hat.
Diese Z-Diagnosen bieten einen Rahmen für die psychosozialen Belastungen, die Rainer in seiner beruflichen und familiären Situation erlebt. Sie helfen dabei, die Gesamtheit der Stressfaktoren und deren Einfluss auf Rainers Wohlbefinden zu erfassen. Eine genaue Diagnose muss jedoch immer durch einen qualifizierten Facharzt oder Therapeuten erfolgen, der auch alle weiteren relevanten Informationen aus der Anamnese mit berücksichtigt.