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AutorenbildThomas Laggner

Fallgeschichte: Rita - Krisenintervention

Gesprächsdauer: 70 Minuten

Rita kommt in die Praxis und wirkt sichtlich erschöpft. Sie beginnt, von den letzten Wochen zu erzählen. Vor etwa vier Wochen hat sie ein neues Medikament ausprobiert, das ihr verschrieben wurde, um ihre psychische Belastung zu lindern. Anfänglich schien alles in Ordnung zu sein, doch nach etwa zwei Wochen traten starke Nebenwirkungen auf. Rita beschreibt intensive Zustände von Panik, das Gefühl, nicht atmen zu können, Wahrnehmungsverzerrungen und fast halluzinatorische Erlebnisse. Sie konnte teilweise nicht mehr richtig sprechen, ihre Gliedmaßen fühllos, der Körper zitterte, sie schwitzte stark.

Sie dachte zunächst, dass diese Zustände Nebenwirkungen des Medikaments waren, und entschied sich, es nach etwa zwei Wochen wieder abzusetzen. Doch die Symptome blieben. Rita wandte sich daraufhin an ihre Therapeutin, um darüber zu sprechen. Während der Sitzung mit der Therapeutin, als sie über ein tiefsitzendes Trauma sprach, das sie eigentlich vergessen hatte, begannen die Symptome erneut. Ihre Therapeutin vermutete, dass es sich um Dissoziationsanfälle handelte, was Rita stark verunsicherte, da sie mit diesem Begriff bisher wenig anfangen konnte.

Nach einem weiteren Telefonat mit ihrer Psychiaterin wurde klar, dass die Zustände wahrscheinlich nicht von den Medikamenten herrührten, sondern dass es sich um eine Reaktion auf ihr Trauma handelte. Das Medikament hatte womöglich dazu geführt, dass der Körper so weit heruntergefahren wurde, dass eine Traumareaktivierung stattfand.

Zusätzlich hatte Rita gerade einen neuen Job begonnen, was eine weitere Belastung für sie darstellte. Die Kombination aus der beruflichen Neuorientierung und den plötzlich auftretenden Dissoziationszuständen führte dazu, dass Rita das Gefühl hatte, die Kontrolle zu verlieren. Die Panikattacken, die Taubheitsgefühle, die brennenden Körperempfindungen – all das überforderte sie.


Rita sprach darüber, dass sie versuchte, mit Yoga und anderen beruhigenden Techniken wieder Boden unter den Füßen zu gewinnen. Doch es fiel ihr schwer, sich selbst zu spüren. Dinge, die normalerweise halfen, wie das Kauen auf einer sauren Zitrone oder das Rollen eines Spikeballs, zeigten kaum Wirkung. Sie beschrieb ihre Situation als völlig neu und erschreckend für sie.


Während der Sitzung wurde klar, wie stark Tinas innerer Antrieb ist, trotz all dieser Herausforderungen weiterzumachen. Sie möchte ihren neuen Job behalten, möchte die Dinge schaffen, doch die Last der unverarbeiteten Traumata ist immens. Besonders die Beziehung zu ihren Eltern scheint eine zentrale Rolle in ihrer Belastung zu spielen. Rita berichtete, dass sie oft das Gefühl hat, für das Wohl ihrer Mutter verantwortlich zu sein, und dass ihre Eltern auch heute noch eine große emotionale Last für sie darstellen.

Zusätzlich zu den familiären Themen kam die Auseinandersetzung mit alten Verletzungen. Rita berichtete, dass sie vor Jahren in einer Beziehung emotionale und physische Gewalt erlebt hatte. Diese Erlebnisse hat sie lange verdrängt, doch nun kommen immer wieder Erinnerungen hoch. Sie erzählte, dass sie in den letzten Jahren allmählich verstand, dass das, was ihr widerfahren war, nicht normal und nicht ihre Schuld war.


Obwohl die Situation für Rita überwältigend ist, zeigt sie einen starken Willen zur Heilung. Sie möchte Wege finden, um aus den dissoziativen Zuständen herauszukommen und sich wieder zu spüren. Während des Gesprächs erhielt sie einige Tipps, wie sie im akuten Fall vorgehen kann:

  • Bodyscan-Übungen zur Förderung der Körperwahrnehmung

  • Atemtechniken zur Beruhigung des Nervensystems

  • Stabilisierungstechniken, die den Fokus auf die Gegenwart lenken


Am Ende des Gesprächs wurde deutlich, dass es vor allem darum geht, Geduld mit sich selbst zu haben. Rita muss lernen, dass Heilung ein Prozess ist, der Zeit braucht. Die Aussage ihrer Therapeutin „Heilen heißt, die Wunde zu pflegen“ bleibt dabei als zentrale Botschaft stehen. Es geht nicht darum, den Schmerz sofort loszuwerden, sondern Schritt für Schritt die Wunde zu versorgen, bis eine langfristige Heilung möglich ist.


Beurteilung aus Supervisionssicht

Aus der Perspektive der Supervision kann das therapeutische Vorgehen in Tinas Fall als angemessen und unterstützend bewertet werden, insbesondere in Anbetracht der außertourlichen Einzelstunde in einer Krisensituation. Die Therapeutin hat eine flexible und sensible Herangehensweise gezeigt, indem sie Rita kurzfristig aufgenommen und Maßnahmen zur Stabilisierung angeboten hat. Dies vermittelt Rita das Gefühl von Sicherheit und Verlässlichkeit, was in ihrer gegenwärtigen emotionalen Lage von großer Bedeutung ist.


Stabilisierende Unterstützung in der Krisensituation: Die therapeutische Sitzung zielte darauf ab, Rita in ihrer Krise zu stabilisieren und ihr Werkzeuge an die Hand zu geben, die sie im Alltag unterstützen können. Der Fokus auf Techniken wie Bodyscan-Übungen, Atemtechniken und Stabilisierungstechniken war besonders passend, um Tinas akute dissoziative Zustände zu unterbrechen und sie ins Hier und Jetzt zu holen. Diese Ansätze helfen ihr, ein Stück Kontrolle über ihre eigenen Reaktionen zurückzugewinnen und geben ihr die Möglichkeit, mit den belastenden Symptomen besser umzugehen.


Wertschätzung und Empathie: Die Therapeutin zeigte eine hohe Empathiefähigkeit, indem sie Tinas Gefühlen Raum gab und diese validierte. Das Verstärken der Bedeutung von Selbstmitgefühl und Geduld mit sich selbst war eine wichtige Botschaft, die Rita half, ihre Situation besser einzuordnen und zu akzeptieren, dass Heilung Zeit braucht.


Optimierungspotenzial: Für die Zukunft wäre es hilfreich, die Rolle und den Umfang der eigenen therapeutischen Unterstützung im Verhältnis zur Arbeit der anderen Behandler (Tinas reguläre Therapeutin und ihre Psychiaterin) klar abzugrenzen. Dies könnte dazu beitragen, Verwirrungen zu vermeiden, insbesondere in Bezug auf die medikamentöse Behandlung, die nicht in den Verantwortungsbereich der Therapeutin fällt. Eine bessere Abstimmung mit den anderen beteiligten Fachkräften könnte Rita zusätzliche Sicherheit geben und den Heilungsprozess unterstützen.

Insgesamt zeigt das Vorgehen der Therapeutin in dieser Sitzung eine hohe Sensibilität für Tinas Bedürfnisse und eine klare Fokussierung auf Stabilisierung und Sicherheit. Es wird empfohlen, weiterhin eng an der Stärkung von Tinas Selbstwirksamkeit zu arbeiten und gleichzeitig die Grenzen der eigenen Rolle klar zu kommunizieren, um eine optimale Unterstützung in Zusammenarbeit mit anderen Behandlern zu gewährleisten.

 

Gibt es hier ICD-10 F-Diagnosen oder Z-Diagnosen?


Bedingt, im aktuellen Text gibt es eine Z-Diagnosen. Z-Diagnosen sind ICD-10-Codes, die für Faktoren verwendet werden, die den Gesundheitszustand beeinflussen, aber nicht selbst eine Krankheit darstellen (wie psychosoziale Faktoren oder Probleme mit der Erziehung).


Basierend auf der Fallbeschreibung könnten folgende ICD-10-Diagnosen zutreffen:

  1. F43.1 Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS):

    • Die Erlebnisse, die Rita beschreibt, beinhalten schwere Traumata (emotionale und physische Gewalt). Sie hat Symptome wie Panik, Dissoziation und das Wiedererleben der traumatischen Ereignisse, was gut zu einer PTBS passt.

  2. F44.9 Dissoziative Störung, nicht näher bezeichnet:

    • Die Beschreibung von Zuständen, in denen sie ihren Körper nicht spürt, Wahrnehmungsverzerrungen erlebt und dissoziiert, lässt auf eine dissoziative Störung schließen.

  3. F41.0 Panikstörung:

    • Die intensiven Zustände von Panik, das Gefühl, nicht atmen zu können, und die starke körperliche Reaktion (Schwitzen, Zittern) deuten auf Panikattacken hin, die sich mit der PTBS überschneiden könnten.

  4. Z63.5 Probleme im Zusammenhang mit einem abhängigen Familienmitglied:

    • Ihre belastende Beziehung zu den Eltern, insbesondere die Verantwortung für ihre Mutter, könnte als psychosozialer Faktor gemäß einer Z-Diagnose eingestuft werden.

  5. F43.2 Anpassungsstörungen:

    • Der Beginn eines neuen Jobs, kombiniert mit den akuten Symptomen, könnte als Anpassungsstörung gewertet werden, besonders da diese Situation zusätzlich zur Reaktivierung alter Traumata geführt hat.


Diese Diagnosen spiegeln die psychische Belastung und den Stress wider, denen Rita ausgesetzt ist, und dienen als Leitfaden für eine passende Behandlung und weitere Abklärung.


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