Freiheit in der Partnerschaft – Wenn Nähe zur Last wird
- Thomas Laggner
- vor 5 Tagen
- 4 Min. Lesezeit
Einblicke in die Partnerschaft von Herrn B. – ein Fall aus der psychotherapeutischen Praxis
Herr B. ist 67, pensioniert, ein praktisch denkender Mensch mit Humor und einem ausgeprägten Bedürfnis nach Eigenständigkeit. Sein Alltag ist erfüllt von handwerklicher Arbeit, gelegentlichen Spaziergängen, einfachen Routinen – und einer Partnerin, die zunehmend Kontrolle ausübt.
Was auf den ersten Blick wie ein klassischer Partnerschaftskonflikt erscheint, ist bei genauerem Hinsehen ein Lehrstück über das fragile Gleichgewicht zwischen Nähe und Distanz in langjährigen Beziehungen.
🧱 Das tägliche Ringen um Raum
Herr B. berichtet, dass seine Partnerin wissen möchte, wo er ist, was er isst, wann er zurückkommt – selbst nach Jahrzehnten des Zusammenlebens. Ob Spaziergang, kleines Bier nach der Arbeit oder ein kurzer Abstecher in die Werkstatt: Alles wird zur Frage. „Wie ich’s mache, ist es falsch“, sagt er einmal resigniert – ein Satz, der tief blicken lässt.
Seine Reaktion? Rückzug, Reduktion, Routine. Er verweigert die Diskussion, geht seinen Weg, schaltet ab. Das schützt kurzfristig – schafft aber auch emotionale Distanz.

🧠 Wenn Therapie anders wirkt als gedacht
Interessant ist: Nicht Herr B. selbst wollte ursprünglich in Therapie – seine Frau drängte ihn dazu. Nun kommt er regelmäßig. Und beginnt, sich zu verändern. Nicht spektakulär, sondern leise: Er bleibt ruhig, meidet Streit, zieht klare Grenzen. Die Partnerin? Reagiert irritiert, fast wütend: „Du hörst gar nicht zu!“ – „Du schlägst nicht mehr zurück!“
Was sich hier zeigt, ist ein bekanntes Phänomen: Wenn sich ein Teil eines Systems verändert, gerät das ganze System in Bewegung. Nicht immer zur Freude aller.
💬 Der Wert von Autonomie
Für Herrn B. ist Freiheit keine Rebellion. Sie ist lebensnotwendig. „Ich brauche meine Runde“, sagt er. „Sonst geht’s mir nicht gut.“ Seine Arbeit, sein Rückzug, sein gelegentliches Bier sind keine Provokationen, sondern kleine Anker im Alltag – in einem Beziehungsgefüge, das von Kontrolle, Kritik und Erwartungen durchzogen ist.
🧘♂️ Therapie nicht als Reparatur, sondern als Stärkung
Herr B. kommt nicht, um seine Frau zu ändern. Er kommt, um besser mit ihr leben zu können – oder trotz ihr. Er möchte nicht mehr im Dauerstress leben. Nicht mehr kämpfen. Einfach: besser aushalten.
Psychotherapie kann in solchen Fällen ein Raum sein, in dem Menschen wieder Boden unter den Füßen bekommen. Nicht, weil sich alles löst – sondern weil sie wieder wissen, wer sie sind und was ihnen zusteht.
💡 Fazit: Nähe ohne Verschmelzung
Was wir von Herrn B. lernen können: Dass Nähe nicht bedeutet, alles miteinander zu teilen. Und dass Distanz nicht Gleichgültigkeit heißt. In Partnerschaften – gerade im Alter – braucht es die Fähigkeit, einander stehen zu lassen. Und sich selbst treu zu bleiben.
🎓 Therapieempfehlung – Fall Herr B.
(Langjährige Beziehung mit hoher Fremdkontrolle und Rückzugsverhalten)
🧭 Zielsetzung
Förderung innerer Autonomie und Selbstfürsorge
Emotionsregulation in konflikthaften Paarbeziehungen
Bewältigung von anhaltender Kritik und Misstrauen
Stärkung der eigenen Kommunikationskompetenz
🛠️ Empfohlene Maßnahmen
1. Einzelpsychotherapie (tiefenpsychologisch oder integrativ)
Fokus:
Biografische Verankerung des Anpassungsverhaltens
Ambivalenz zwischen Nähe und Freiheit
Schuld und Selbstwert
2. Focusing-orientierte Gesprächstherapie
Fokus:
Körpersignale als Indikator für Überforderung
Entlastung durch achtsames Innehalten
Selbstbestimmte Handlungsimpulse stärken
3. Männergruppe / psychosoziale Beratung
Fokus:
Austausch, Normalisierung und Entlastung
Rollenerwartungen im Alter
Identitätsarbeit außerhalb der Partnerschaft
4. (Optional) Paartherapie
Nur bei Kooperationsbereitschaft der PartnerinFokus:
Mustererkennung und Deeskalation
Grenzen und Bedürfnisse kommunizieren
Realistische Erwartungen klären
📌 Methodische Schwerpunkte
Ressourcenorientierte Selbstreflexion
Arbeit mit inneren Anteilen („der Ruhige“, „der Angepasste“, „der Widerständige“)
Psychoedukation zu Nähe-Distanz-Regulation
Training kommunikativer Neutralität
🧘♂️ Praxisnahe Tools
Übung | Ziel |
10-Minuten-Protokoll | Selbstfürsorge sichtbar machen |
Atem-Stopp-Technik | Sofortintervention bei Kritik |
Körperwahrnehmung | Spannungsregulation |
Humor-Tagebuch | Leichtigkeit & Perspektivenwechsel |
Didaktischer Hinweis:Der Fall eignet sich gut zur Diskussion folgender Ausbildungsthemen:
Nähe-Distanz-Konflikte im Alter
Selbstfürsorge unter psychischer Fremdbesetzung
Psychoedukation bei narzisstisch-zwanghafter Partnerstruktur
Rolle von Humor als Überlebensstrategie
🧩 Rolle der Lebens- und Sozialberatung im Fall Herrn B.
🎯 Zielsetzung
Förderung konkreter Handlungsstrategien im Alltag
Entlastung durch strukturierte Gespräche und Reflexion
Stärkung der Selbstwirksamkeit und Lebensbalance
Verbesserung von Kommunikationsfähigkeit & Konfliktkompetenz
🛠️ Mögliche Interventionen durch Lebensberater:innen
1. Alltagssupport & Rollenklärung
Analyse von Alltagsroutinen: Wo liegt unnötiger Stress?
Unterstützung bei der Balance zwischen Arbeit, Beziehung und Rückzugsphasen
Stärkung des Selbstmanagements in der Pension
2. Kommunikationstraining
Einüben gewaltfreier Kommunikation („Ich-Botschaften“, Deeskalation)
Umgang mit Kritik und Vorwürfen
Setzen klarer Grenzen mit Respekt und Klarheit
3. Werte- & Zielarbeit
Was ist mir wichtig im dritten Lebensabschnitt?
Welche Rollen will ich leben (Partner, Vater, Freund, „freier Mensch“)?
Aufbau eines neuen Selbstbilds jenseits von Anpassung
4. Ressourcenaktivierung
Wiederentdecken alter Interessen (z. B. Musik, soziale Kontakte)
Aufbau von kleinen Fluchten („Mikro-Auszeiten“)
Strukturierter Wochenplan mit Energieressourcen
5. Paarbegleitung (nicht therapeutisch)
Moderation von Gesprächen in ruhiger Atmosphäre
Bearbeiten konkreter Konfliktthemen ohne pathologisierende Deutung
Entwicklung gemeinsamer Vereinbarungen im Alltag
🤝 Abgrenzung zur Psychotherapie
Lebensberatung | Psychotherapie |
Fokus auf Gegenwart und Zukunft | Integration biografischer & unbewusster Anteile |
Keine Krankheitsbehandlung | Arbeit an Störungen & innerpsychischen Konflikten |
Lösungs- & ressourcenorientiert | Prozess- und tiefenorientiert |
Klar strukturiert, zeitlich begrenzt | Offen in Tiefe und Dauer |
💬 Fazit
Ein Lebens- und Sozialberater kann für Herrn B. eine wertvolle Ergänzung sein – besonders zur Alltagsstabilisierung, Kommunikationsstärkung und Entwicklung persönlicher Strategien, wie man in einer konflikthaften Beziehung handlungsfähig und gesund bleiben kann.