Mehr als eine Liebe?
- Thomas Laggner
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Aktualisiert: vor 2 Tagen
Chancen und Herausforderungen polyamorer Beziehungen – aus psychologischer Sicht
von Thomas Laggner, Psychotherapeut
Polyamorie – das klingt für manche nach Hollywood-Romanze, für andere nach Chaos pur. Doch jenseits aller Klischees ist Polyamorie für viele Menschen eine bewusst gewählte und tief erfüllende Beziehungsform. Was aber bedeutet es wirklich, mehrere Menschen gleichzeitig zu lieben – offen, einvernehmlich und ehrlich? Welche Chancen und Hürden bringt diese Form der Beziehungsgestaltung mit sich? Und wie wirkt sich das Ganze auf Kinder, Bindung und emotionale Stabilität aus?
In diesem Artikel fasse ich zentrale Erkenntnisse aus psychologischer Forschung, Bindungstheorie und neueren Studien zu polyamoren Beziehungen zusammen – mit einem besonderen Blick auf Paare mit und ohne Kinder.
Was ist Polyamorie?
Polyamorie bedeutet: Mehr als eine Liebesbeziehung – mit dem Wissen und Einverständnis aller Beteiligten. Anders als bei Seitensprüngen oder Swinging geht es hier nicht um heimliche Abenteuer, sondern um ehrliche, dauerhafte Beziehungen mit mehreren Partner:innen. Polyamorie kann in vielen Formen gelebt werden: als feste Dreierbeziehung (Triade), als V-Konstellation mit einem verbindenden Menschen oder als Beziehungsnetzwerk (Polykül) mit mehreren Liebenden.
Wichtig ist: Polyamorie ist kein Trend, sondern eine Beziehungsrealität. Schätzungsweise 4–5 % der Menschen leben polyamor, und etwa jede fünfte Person hat laut Studien bereits eine Form von konsensuell nicht-monogamer Beziehung erlebt (Rubel & Burleigh, 2020).
Kinder in polyamoren Familien – geht das?
Ein oft diskutiertes Thema ist: Wie erleben Kinder polyamore Familien? Die Sorge, dass Kinder „verwirrt“ oder „vernachlässigt“ werden, hält sich hartnäckig. Doch wissenschaftlich betrachtet zeigt sich ein anderes Bild:
Studien zeigen, dass Kinder in polyamoren Haushalten genauso stabil, sozial kompetent und emotional sicher aufwachsen wie Kinder in anderen Familienformen (Sheff, 2014).
Mehr Erwachsene im Haus bedeuten auch: mehr Bezugspersonen, mehr Unterstützung bei den Hausaufgaben, mehr Flexibilität im Alltag.
Herausforderungen bestehen v. a. im Umgang mit Vorurteilen: Eltern berichten, dass sie ihr Familienmodell gegenüber Schule, Ärzten oder Behörden oft vorsichtig kommunizieren müssen (Goldfeder, 2020).
Mein Fazit als Therapeut: Nicht die Beziehungsform entscheidet über das Kindeswohl – sondern die Qualität der Bindung und Fürsorge.
Polyamorie & Bindung: Was sagt die Psychologie?
Ein häufiger Vorwurf lautet: „Wer polyamor lebt, hat wohl Angst vor Nähe.“ Die Forschung entkräftet diesen Mythos klar. In mehreren Studien zeigte sich:
Polyamor lebende Menschen weisen oft sichere Bindungsstile auf – mit wenig Bindungsangst oder -vermeidung (Moors et al., 2017).
Interessanterweise sind die Bindungen zu verschiedenen Partner:innen nicht voneinander abhängig – Probleme in einer Beziehung bedeuten nicht automatisch Konflikte in der anderen (Rodrigues et al., 2020).
Polyamorie kann sogar helfen, emotionale Reife und Selbstreflexion zu entwickeln – weil Eifersucht, Erwartungen und Unsicherheiten aktiv besprochen werden müssen.
Neuropsychologisch betrachtet fördern polyamore Beziehungen Fähigkeiten wie Emotionsregulation, Mitfreude (Compersion) und Achtsamkeit – eine echte Herausforderung, aber auch eine Chance für persönliches Wachstum.
Die Kehrseite: Herausforderungen in polyamoren Beziehungen
Natürlich ist Polyamorie kein Spaziergang. Typische Schwierigkeiten, die Paare (mit und ohne Kinder) berichten, sind:
Herausforderung | Beschreibung |
Eifersucht | Auch in offenen Beziehungen ein zentrales Thema – sie verlangt viel Selbstreflexion und Kommunikation. |
Kommunikationsaufwand | Wer mehrere Beziehungen führt, muss aktiv koordinieren: Gefühle, Termine, Grenzen – nichts geht ohne Absprache. |
Rollenkonflikte | Besonders bei hierarchischen Strukturen (Primär- vs. Sekundärpartner:innen) kann es zu Spannungen kommen. |
Stigmatisierung | Viele schweigen aus Angst vor gesellschaftlicher Ablehnung – vor allem Eltern erleben hier besonderen Druck. |
Rechtliche Unsicherheiten | Rechtssysteme sind meist auf Zweierbeziehungen ausgelegt – weitere Partner:innen haben oft keine Absicherung (z. B. im Krankheitsfall oder bei Elternrechten). |
Chancen & Ressourcen: Warum viele Poly-Paare glücklich sind
Was motiviert Menschen trotz der Herausforderungen zu Polyamorie?
Ehrlichere Beziehungen: Viele berichten, dass sie durch Polyamorie gelernt haben, ihre Bedürfnisse klarer zu kommunizieren.
Mehr emotionale Unterstützung: Durch ein Netzwerk aus Partner:innen und „Metamours“ (die Partner:innen der Partner:innen) entstehen neue Formen von Wahlfamilien.
Individuelle Entfaltung: Niemand muss „alles für eine Person sein“. Unterschiedliche Beziehungen können unterschiedliche Bedürfnisse erfüllen – emotional, geistig, sexuell.
Stabilität für Kinder: In polyamoren Familien teilen sich mehrere Erwachsene Verantwortung, was oft zu einer stabileren Betreuung führt – wie ein erweitertes Dorf für die nächste Generation.
Zwei Stimmen aus der Praxis
Fallbeispiel 1: Dreifach-Elternschaft Eine Mutter mit zwei Partnern berichtet: „Ich mache das Mama-Zeug: Termine, Bettzeiten, Regeln. Mein Freund hilft bei Mathe, meine Partnerin spielt stundenlang mit den Kindern. Jeder bringt etwas ein – und die Kinder profitieren davon.“ (Sheff, 2014)
Fallbeispiel 2: Teenager-Stimme Ein 16-Jähriger sagt über seine drei Elternteile: „Ich habe mehr Leute, die mich herumfahren, mir bei den Hausaufgaben helfen und zu meinen Lacrosse-Spielen kommen. Ich bin wie jeder andere Teenager – nur mit einer größeren Familie.“
Fazit: Liebe ist (k)ein Nullsummenspiel
Polyamorie bedeutet nicht: „Ich liebe dich weniger, weil ich noch jemand anderen liebe.“ Es bedeutet eher: „Ich bin bereit, mein Herz zu öffnen – für verschiedene Menschen, auf verschiedene Weisen.“ Die psychologische Forschung zeigt: Mit Achtsamkeit, Kommunikation und Stabilität kann Polyamorie eine gesunde und erfüllende Beziehungsform sein – auch (oder gerade) für Familien mit Kindern.
Wichtig ist nicht, wie viele Partner:innen wir haben. Sondern: wie ehrlich, bewusst und liebevoll wir Beziehungen gestalten.
Quellen (Auswahl)
Moors, A. C., Conley, T. D., Edelstein, R. S., & Chopik, W. J. (2017). Attached to monogamy? Avoidance predicts willingness to engage (but not actual engagement) in consensual non-monogamy. Journal of Social and Personal Relationships, 34(6), 822–843.
Sheff, E. (2014). The Polyamorists Next Door: Inside Multiple-Partner Relationships and Families. Rowman & Littlefield.
Rodrigues, D. L., Fasoli, F., Huic, A., & Lopes, D. (2020). Which partners are more prone to jealousy? The role of attachment, relationship satisfaction, and consensual non-monogamy. Personal Relationships, 27(1), 92–110.
Rubel, A. N., & Burleigh, T. J. (2020). Counting polyamorists who count: Prevalence and profiles of openly polyamorous individuals in the United States. Frontiers in Psychology, 11, 566894.
Goldfeder, E. (2020). Raising children in polyamorous families. Journal of GLBT Family Studies, 16(3), 223–242.