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"Na geh…“ – Wenn Sprache verletzt

Ein Erfahrungsbericht und eine professionelle Einordnung für Ausbildung, Praxis und Bewusstseinsbildung

„Gestern wollte ich den ersten richtigen Schritt zur Besserung machen.Ich war beim Hausarzt und habe zum ersten Mal das Wort Depression ausgesprochen.Die Reaktion des Arztes?‚Na geh. Springens ma eh ned von da Bruckn?‘Ich war sprachlos. Dann fragte er:‚Sans gestresst? Is wer gstorm?‘Ich verneinte.Antwort: ‚Na dann. Is eh nix.‘Ich habe zwar die Überweisung zur Psychotherapie bekommen –aber geblieben ist vor allem eines:eine tiefe, lähmende Scham.Ist das normal? Ist das professionell?“

Ein anonym geteilter Erfahrungsbericht – und eine Frage, die uns alle betrifft:

Wie gehen wir mit Menschen um, die in psychischer Not erstmals Hilfe suchen?Was passiert im entscheidenden Moment des Öffnens, wenn Betroffene sich überwinden und ihre innere Not benennen – oft zum ersten Mal?Und wie wirken Worte, Gestik und Haltung in genau diesem Augenblick?

Diese Fragen sind zentral – für alle, die im psychosozialen Feld arbeiten oder sich in Ausbildung befinden.



Erstkontakt mit psychischer Not: Was Menschen wirklich brauchen


Der sogenannte „erste Schritt“ zur Hilfe ist für Betroffene häufig mit Angst, Unsicherheit und Scham behaftet. Depression, Angststörung, Burnout oder Suizidgedanken sind noch immer stark stigmatisiert – das gilt nicht nur gesellschaftlich, sondern teils auch im medizinischen Alltag.

Wenn in so einem Moment auf eine ehrliche Offenbarung ein flapsiger Witz oder eine bagatellisierende Bemerkungfolgt, entsteht das Gegenteil von Hilfe:

Rückzug. Entwürdigung. Vertrauensverlust.

Drei zentrale Säulen für gute psychische Erstversorgung

🧭 1. Haltung statt Reaktion

Der erste Kontakt entscheidet oft über den weiteren Verlauf der Hilfesuche. Professionelle Grundhaltung bedeutet: Respekt, Zuhören, Ernstnehmen – auch (und gerade) dann, wenn keine offensichtliche Krise vorliegt. Ein „Na dann, is eh nix“ ist keine Diagnose – sondern ein Zeichen emotionaler Unverfügbarkeit.

🧠 2. Sprachbewusstsein

Sprachliche Entgleisungen – oft aus Unsicherheit, Stress oder Überforderung – wirken wie Nadelstiche. Ein Satz wie „Springens ma eh ned…“ kann für Betroffene retraumatisierend wirken. Eine wertschätzende Sprache ist kein Luxus, sondern Grundvoraussetzung für wirksame Unterstützung.

🤝 3. Beziehung vor Intervention

In der psychosozialen Arbeit gilt: Die Beziehung heilt – nicht der Ratschlag. Auch bei kurzen Kontakten oder Überweisungen ist es möglich, mit einem einfachen Satz Sicherheit zu geben:

„Danke, dass Sie das ansprechen. Ich nehme das ernst – und gemeinsam finden wir einen nächsten guten Schritt.“Ein solcher Satz kann mehr bewirken als jede Verordnung.

Für Ausbildung und Praxis: Worauf sollten wir achten?

In der Ausbildung psychosozialer Berufe (Psychotherapie, Beratung, Pflege, Sozialarbeit, medizinische Grundversorgung) sollten folgende Punkte betont und geübt werden:

  • Innere Achtsamkeit: Welche Reaktionen löst das Thema „Depression“ oder „Suizid“ in mir selbst aus?

  • Reflexion statt Abwehr: Habe ich gelernt, psychische Belastungen ernst zu nehmen – oder reagiere ich reflexhaft?

  • Sprache & Mimik schulen: Wie kann ich auch in kurzen, stressigen Situationen empathisch bleiben?

  • Rollenspiele & Supervision: Konkrete Szenen wie der obige Erfahrungsbericht sollten methodisch bearbeitet werden.


Fazit: Helfen beginnt mit Menschlichkeit

Psychische Erstversorgung braucht keine großen Worte, keine Diagnosen, keine schnellen Lösungen. Sie braucht:Haltung, Sprache, Zeit – und das Wissen um die Wirkung jedes Kontakts.

Ob wir in einem Gespräch Leben retten oder Vertrauen verlieren, entscheidet sich oft in einem einzigen Moment.


💬 Wertschätzende Eröffnungssätze:

  1. „Danke, dass Sie den Mut hatten, Ihre Erfahrung so offen zu schildern.“

  2. „Ihre Worte berühren – und sie zeigen, wie wichtig es ist, über solche Erfahrungen zu sprechen.“

  3. „Ich finde es beeindruckend, wie ehrlich und klar Sie diesen Moment beschrieben haben.“

  4. „Ihre Geschichte ist wertvoll – weil sie sichtbar macht, was oft im Verborgenen bleibt.“

  5. „Was Sie erlebt haben, ist nicht selbstverständlich – und Ihre Offenheit verdient großen Respekt.“

  6. „Es braucht viel Stärke, sich trotz solcher Erfahrungen weiter auf den Weg zu machen.“

  7. „Vielen Dank, dass Sie diese Situation teilen – sie spricht vielen Menschen aus der Seele.“

  8. „Sie haben mit Ihren Worten etwas Wichtiges benannt, das leider viel zu oft passiert.“

  9. „Was Sie schildern, zeigt sehr deutlich, wie sensibel der erste Kontakt sein sollte – danke, dass Sie das sichtbar machen.“

  10. „Ich bin dankbar, dass Sie sich mitteilen – gerade weil solche Situationen oft verschwiegen werden.“

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