Neurogenes Zittern: Ein somatischer Weg zur Traumalösung
- Thomas Laggner
- vor 2 Tagen
- 4 Min. Lesezeit
Neurogenes Zittern ist eine körperbasierte Methode zur Entladung von tiefsitzendem Stress, Spannungen und traumatischen Erfahrungen. Die Technik basiert auf der Annahme, dass der Körper selbst über ein angeborenes Selbstheilungssystem verfügt – insbesondere durch das sogenannte Zittern oder Schütteln, das in der Tierwelt als natürliche Entladungsreaktion auf Bedrohung gut beobachtbar ist.
Die Methode wurde von Dr. David Berceli entwickelt und ist unter dem Namen Tension & Trauma Releasing Exercises (TRE®) bekannt. Sie zielt darauf ab, dieses Zittern bewusst auszulösen, um das autonome Nervensystem zu regulieren.
🌀 Wie funktioniert das?
Beim neurogenen Zittern wird durch spezielle Übungen (meist Dehnungen und Haltepositionen) die tiefe Muskulatur – insbesondere der Psoas-Muskel – aktiviert. Danach kommt es oft ganz natürlich zu einem Zittern oder Wellenbewegungen im Körper. Das ist kein pathologisches Zittern, sondern ein "heilsames Vibrieren", das gespeicherte Stressenergie entlädt.
Die Übungen dauern meist 15–30 Minuten und können sehr sanft oder auch intensiver durchgeführt werden – je nachdem, wie reguliert und bereit das Nervensystem ist.
🎯 Therapeutische Wirkung
Stressabbau: chronische Spannungen, auch durch Alltagsstress, können sich lösen.
Traumaintegration: unvollständige Kampf-/Fluchtreaktionen werden energetisch "vollendet".
Nervensystem-Regulation: Vagusaktivierung, bessere Herzfrequenzvariabilität.
Selbstwirksamkeit: Die Klient:innen erleben sich als aktiv in ihrem Heilungsprozess.
Schlaf und Körperwahrnehmung verbessern sich: Viele berichten von tieferer Entspannung, emotionaler Stabilität und innerer Ruhe nach der Übung.
🔍 Neurobiologischer Hintergrund
Im limbischen System, v. a. in der Amygdala und im Hypothalamus, werden traumatische Erfahrungen "geparkt", wenn sie nicht verarbeitet werden können.
Das autonome Nervensystem bleibt dadurch oft in einem Übererregungszustand (Hypervigilanz).
Das Zittern hilft, diesen Zustand zu verlassen – ähnlich wie Tiere, die sich nach Gefahr schütteln, um wieder in die Balance zu kommen.
Polyvagal-Theorie nach Stephen Porges liefert hier eine gute theoretische Basis.
🛠️ Einsatz in deiner Praxis
In Kombination mit Gesprächspsychotherapie: Vor oder nach emotional aufwühlenden Sitzungen.
Als Bestandteil von Selbstfürsorge-Workshops: Menschen lernen, wie sie sich selbst regulieren können.
In der Traumapädagogik und im Coaching: Besonders hilfreich für Menschen, die „nicht reden wollen oder können“.
In Gruppensettings mit Anleitung und Reflexion: Besonders wirkungsvoll und oft auch verbindend.
Körpertherapie light: Für jene, die sich mit intensiver Körperarbeit (noch) nicht wohlfühlen.
⚠️ Contraindikationen & Vorsicht
Bei akut psychotischen Zuständen oder schwerer Dissoziation sollte das Zittern nur unter engmaschiger Begleitung stattfinden.
Ebenso bei unregulierten Traumatisierungen: „Titration statt Überflutung“ ist wichtig!
Es braucht gute Anleitung und eine begleitende therapeutische oder supervisorische Reflexion – also genau dein Metier, Thomas.
📚 Inspiration & Vertiefung
Berceli, David: Der Körper befreit sich selbst: Traumaheilung durch neurogenes Zittern.
Peter Levine: Somatic Experiencing – andere, aber verwandte Perspektive.
Stephen Porges: Die Polyvagal-Theorie – theoretischer Unterbau.
Luise Reddemann: Ihre Ansätze der „Imagination“ ergänzen wunderbar die Arbeit mit neurogenem Zittern.
🌀 Ablauf therapeutischer Sitzung mit neurogenem Zittern
Ziel: Spannungs- und Traumalösung durch Körperwahrnehmung, Selbstregulation und neurogenes ZitternDauer: ca. 60 MinutenRahmen: Einzel- oder Gruppensetting
1️⃣ Ankommen & Orientierung (5–10 Min)
Ziel: Sicherheit & Präsenz herstellen
Begrüßung & kurzer Austausch („Wie geht es dir heute?“)
Einführung in das Thema der heutigen Sitzung (z. B. Stressabbau, Körperwahrnehmung, Integration)
Erinnerung: Alles darf – nichts muss. Die Selbstregulation steht im Vordergrund.
Hinweis: Pausen jederzeit möglich. Du kannst jederzeit stoppen, verändern oder abbrechen.
2️⃣ Körperwahrnehmung & Erdung (5–10 Min)
Ziel: Verbindung zum Körper aufbauen
Atembeobachtung (z. B. 3 bewusste Atemzüge)
Spüren: Füße am Boden, Kontakt zur Sitzfläche oder Matte
Kurze bodenständige Imagination: z. B. „Stell dir vor, deine Füße wachsen in den Boden hinein wie Baumwurzeln“
ggf. sanfte Schüttelübung im Stehen oder Gehen: „Alles darf locker sein“
3️⃣ Aktivierungsübungen (15–20 Min)
Ziel: Psoas & tiefe Muskulatur aktivieren, Zittern ermöglichenBeispielabfolge nach TRE® (anpassbar je nach Person):
Wandhaltung (leichte Kniebeugung an der Wand, 1–2 Minuten)
Waden- & Oberschenkeldehnung im Stehen
Schmetterlingshaltung im Liegen (auf dem Rücken, Fußsohlen aneinander, Knie auseinander)
Beine leicht geöffnet, Hüftbreit – Halten und Warten
Das Zittern einladen, nicht erzwingen
📝 Hinweis für Klient:innen:
„Lass den Körper machen. Du musst nichts leisten. Du darfst dich einfach beobachten.“

4️⃣ Zittern zulassen & begleiten (10–15 Min)
Ziel: Entladung und Integration
Einladung zum bewussten Spüren (nicht interpretieren, nur wahrnehmen)
Beobachten, was sich im Körper verändert
Atem immer wieder begleiten („Atme ruhig weiter… alles ist gut.“)
Bei starker Aktivierung: Mit Aufmerksamkeit zu Füßen, Händen oder Atem gehen
Das neurogene Zittern ist ein natürlicher Entladungsmechanismus, den der Körper nutzt, um sich von Stress, Trauma und Anspannung zu befreien. Damit dieser Prozess in einem sicheren Rahmen stattfindet, ist es hilfreich, das Nervensystem behutsam zu aktivieren und zu regulieren.
Diese vier Übungen stammen aus körperorientierten Therapieansätzen wie TRE® (Tension & Trauma Releasing Exercises) und somatischer Traumatherapie. Sie lassen sich leicht in den Alltag integrieren – ob zu Hause, in der Therapie oder im Coaching.
✅ Die Übungen im Überblick:
1. Wandhaltung (Grounding)
Lehne dich mit dem Rücken locker an eine Wand. Spüre deine Fußsohlen am Boden. Atme ruhig und beobachte dein Gleichgewicht. Dauer: 1–2 Minuten.
2. Achtsames Gehen
Gehe langsam durch den Raum. Spüre den Bodenkontakt bei jedem Schritt. Lenke deine Aufmerksamkeit auf das Gefühl in deinen Füßen.
3. Sitzende Erdung
Setze dich in den Schneidersitz (oder bequem auf einen Stuhl), Hände locker auf den Knien. Spüre deine Sitzbeinhöcker. Atme tief in den Bauch.
4. Rückenlage mit aufgestellten Beinen
Lege dich auf den Rücken, die Füße hüftbreit am Boden, Knie nach oben. Spüre deinen Kontakt zur Unterlage. Bleibe präsent und lasse Bewegung entstehen, wenn sie kommt.
👂 Therapeutische Haltung:
Raum halten, Vertrauen signalisieren
ggf. verbalisierende Begleitung: „Ich bin da. Dein Körper weiß, was er tut.“
Stille respektieren – nicht reden, wenn es nicht gebraucht wird
5️⃣ Integration & Nachspüren (10–15 Min)
Ziel: Selbstregulation, Rückkehr zur Balance
Ruhiges Liegen oder Sitzen
Sanfte Decke, Wasser anbieten
Reflexion (offen oder mit Fragen):
Was hast du gespürt?
Gab es Stellen, wo du überrascht warst?
Gibt es einen Satz, der jetzt in dir auftaucht?
🌀 Integrationstechniken:
Hände auf den Bauch legen
Hände reiben & Gesicht berühren
„Was nehme ich heute für mich mit?“
🔚 Abschluss & Ausblick (5 Min)
Ziel: Verankerung & Orientierung
Kurze Verabschiedung & Hinweis auf Nachwirkungen (z. B. Müdigkeit, Träume, verändertes Körpergefühl)
Einladung zur Selbstfürsorge („Gönn dir heute etwas Ruhiges.“)
Ausblick: Wiederholung möglich, individuelle Anpassung in der nächsten Sitzung
🧾 Hinweise (nur intern)
Du kannst je nach Klient:in einzelne Übungen weglassen oder modifizieren.
Wichtig: Sicherheit vor Aktivierung – keine Retraumatisierung durch Überforderung.
Ideal für Ressourcenaufbau, Krisennachsorge, somatische Selbstbegegnung.
Kann mit Imaginationsmethoden (z. B. Reddemann) oder Ego-State-Arbeit kombiniert werden.