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Normopathie – Wenn das „Normale“ krank macht

Aktualisiert: vor 2 Tagen

Ein psychodynamischer Blick auf gesellschaftliche Anpassung und ihre Folgen – nach Hans-Joachim Maaz


🔍 Begriffsklärung: Was ist Normopathie?


Normopathie beschreibt eine pathologische Anpassung an gesellschaftliche Normen und Erwartungen, die nach außen als „normal“ erscheint, jedoch innerlich Entfremdung, Angst, Leere und Beziehungsstörungen erzeugt.

Der Begriff stammt ursprünglich von Erich Wulff (1972), wurde jedoch durch Hans-Joachim Maaz weiterentwickelt und populär gemacht, vor allem in seinem Buch👉 „Das falsche Leben – Ursachen und Folgen unserer normopathischen Gesellschaft“ (C.H. Beck, 2017).

Maaz beschreibt die Normopathie als eine kollektive Persönlichkeitsstörung, die nicht nur das Individuum, sondern ganze Gesellschaften betrifft.


🧠 Die Tiefenstruktur der Normopathie (nach Maaz)



1. Das Falsche Selbst

Der Normopath lebt ein angepasstes, funktionierendes Leben – doch innerlich ist er entfremdet von seinen Bedürfnissen.Er opfert Authentizität zugunsten von Anerkennung.

🧩 Symptome:

  • Zwanghafte Orientierung an „richtigem“ Verhalten

  • Angst vor Ablehnung und Versagen

  • Kälte oder emotionale Abwesenheit in Beziehungen

  • Abwertung von Schwäche, Abweichung und Verletzlichkeit


2. Die normopathische Gesellschaft

Maaz argumentiert, dass unsere Gesellschaft Normopathie fördert:

  • Leistung = Wert

  • Schwäche = Makel

  • Konsum = Glück

  • Anpassung = Tugend


➡️ Soziale Anerkennung wird nicht über Sinn oder Authentizität, sondern über Normerfüllung vermittelt.


3. Die psychodynamische Wurzel: Das emotionale Defizit

Maaz sieht die Ursache in der frühen Kindheit:

"Ein Kind, das nicht bedingungslos geliebt wird, passt sich an, um geliebt zu werden – und verliert sich selbst."

🔁 Dieses Muster wiederholt sich im Erwachsenenalter – meist unbewusst.


🔄 Übertragung in die Beratungspraxis

Beispielhafte Fallskizze:

Klientin, 42 Jahre, leitende Angestellte, chronisch erschöpft, Beziehungsprobleme.Aussage: „Ich funktioniere, aber ich fühle mich leer. Ich weiß gar nicht, wer ich eigentlich bin.“

👉 Hypothese: Normopathische Anpassung – das Leben nach außen erscheint perfekt, innen herrscht Identitätsdiffusion.


Therapeutische Aufgabe:

  • Authentische Bedürfnisse entdecken

  • Erlaubnis zum Anderssein entwickeln

  • Frühkindliche Prägungen aufdecken

  • Selbstempathie fördern


🔧 Methoden-Impulse für die Ausbildung & Praxis

Ebene

Interventionen

Kognitiv

Wertearbeit, Glaubenssätze hinterfragen („Ich muss immer stark sein“)

Emotional

Inneres Kind-Arbeit, Trauer um das Verlorene Selbst

Systemisch

Herkunftsfamilienanalyse: Wer durfte echt sein? Wer musste sich anpassen?

Körperlich

Achtsamkeit, Körperwahrnehmung, Abgrenzungsübungen

🧠 Reflexionsfragen für Ausbildung & Supervision

  1. In welchen Bereichen erlebe ich in meinem eigenen Leben normopathischen Druck?

  2. Wo neige ich dazu, Anpassung mit sozialer Intelligenz zu verwechseln?

  3. Welche Rolle spielen „gesellschaftlich erwünschte“ Rollenbilder in meiner Praxis?

  4. Was kann ich tun, um in Beratung/Klient:innenarbeit Räume für Authentizität zu öffnen?


📚 Literatur und Quellen

  • Maaz, Hans-Joachim (2017): Das falsche Leben. Ursachen und Folgen unserer normopathischen Gesellschaft. München: C.H. Beck.

  • Wulff, Erich (1972): Psychiatrie und Gesellschaft. Frankfurt: Suhrkamp.

  • Maaz, H.-J. (Interview): „Gute Eltern sein? Die meisten können es nicht mehr“, corrigenda.online

  • Wikipedia-Eintrag zu Normopathie

  • YouTube: Vorträge von H.-J. Maaz u.a. zum Thema „Die gestörte Gesellschaft“


📝 Fazit

Normopathie ist mehr als ein individuelles Problem – sie ist Ausdruck einer gesellschaftlich tolerierten Entfremdung.Für uns als psychosoziale Berater:innen, Psychotherapeut:innen oder Supervisor:innen bedeutet das:

Wachsamkeit gegenüber allzu „normalen“ Lebensläufen – und die Einladung an unsere Klient:innen (und uns selbst), das echte Leben zu suchen.

 

🧠 Was ist das „Größenselbst“?

Das Größenselbst (nach Maaz) ist eine narzisstische Überkompensation:

  • Der Mensch erscheint nach außen stark, erfolgreich, selbstsicher, leistungsfähig.

  • Innen jedoch fühlt er sich wertlos, abhängig, ungeliebt, leer.

  • Das Selbstbild wird durch Leistung, Kontrolle und Macht stabilisiert.

  • Typisch sind Führungspersönlichkeiten, Selbstdarsteller:innen oder Ideal-Söhne/-Töchter.

🧩 Beispiel aus der Praxis:Ein Mann, 48, erfolgreicher Unternehmer, Burnout.Er sagt: „Ich muss funktionieren, Schwäche ist keine Option.“Hinter dem Größenselbst steckt oft das verletzte innere Kind, das glaubt:„Nur wenn ich perfekt bin, werde ich geliebt.“


🐚 Was ist das „Größenklein“?

Das Größenklein ist die gegenteilige Ausprägung – aber mit gleicher Wurzel:

  • Menschen erleben sich chronisch klein, unfähig, abhängig.

  • Sie idealisieren Autoritäten, passen sich unterwürfig an.

  • Oft entwickelt sich daraus Helfersyndrom, Depression, Selbstaufgabe.

🧩 Beispiel aus der Praxis:Eine Frau, 34, Kindheit in emotionaler Vernachlässigung.Sie sagt: „Ich habe das Gefühl, für andere zu existieren. Wenn ich mich abgrenze, bekomme ich Schuldgefühle.“


🔄 Verbindung zur Normopathie

Hier schließt sich der Kreis:

Kernidee

Normopathie = gesellschaftlich akzeptierte Störung der Selbstregulation

Das Größenselbst wird bewundert: Leistung, Disziplin, Erfolg – „normal“


Das Größenklein wird toleriert: Anpassung, Rückzug, Unterordnung – „unauffällig“


Beides verhindert echte Selbstbegegnung, Bedürfnisäußerung, Entwicklung


Normopathie ist die kollektive Bühne, auf der das Größenselbst und das Größenklein als „funktional“ gelten – obwohl sie Zeichen einer tiefen inneren Not sind.

🧰 Übertragung in die Ausbildung & Beratung


1. Diagnostik & Wahrnehmung

  • Woran erkenne ich Größenselbst/Größenklein bei Klient:innen?

  • Welche normopathischen Schutzstrukturen liegen darunter?


2. Beraterische Haltung

  • Wertschätzung beider Strategien als Überlebensleistung

  • Keine „Entlarvung“, sondern behutsame Begleitung zur Selbstkontaktaufnahme


3. Fragen zur Selbstreflexion (auch in der Ausbildung):

  • Wo agiere ich selbst aus einem Größenselbst heraus?

  • In welchen Situationen falle ich ins Größenklein?

  • Wo wurde ich „normal gemacht“, statt gesehen?


🧩 Zusammenfassung

Begriff

Beschreibung

Größenselbst

Narzisstisch überhöht, kompensierend, leistungsgetrieben

Größenklein

Unterwürfig, selbstentwertend, abhängig

Normopathie

Gesellschaftlich getragene Pathologie – beide Muster gelten als „normal“

👉 Beide sind Überlebensreaktionen auf emotionale Mangelzustände, besonders in der frühen Kindheit – und Ausdruck eines gestörten Selbstbezugs.

 

🌱 Übungseinheit: „Zwischen Größe und Kleinheit – Wege zum echten Selbst“

Ein körperlich-emotionales Selbsterfahrungsmodul in Kleingruppenarbeit

🧩 Ziel der Einheit

  • Eigene Tendenzen zwischen Größenselbst und Größenklein erkennen

  • Den Einfluss normopathischer Werte auf das Selbstbild erspüren

  • Kontakt zum „authentischen Ich“ vertiefen

  • Ressourcen zur Selbstregulation erfahrbar machen


📍 Ablaufplan (ca. 90–120 Minuten)


🌀 1. Einstieg: Kurze Einführung (10 Minuten)

Impuls durch die Leitung:

„Wir leben in einer Gesellschaft, in der es oft als Schwäche gilt, echt zu sein. Viele von uns funktionieren entweder im Modus ‚Ich bin stark und darf keine Schwäche zeigen‘ oder ‚Ich bin klein und darf nicht aufbegehren‘. Beides sind Überlebensformen. Heute forschen wir, wie sich diese Muster in unserem Körper, Denken und Fühlen zeigen – und wie wir uns liebevoll damit verbinden können.“

Anregung zur Diskussion (im Plenum):

  • Was verstehe ich unter Normopathie?

  • Wo erkenne ich bei mir eher das Größenselbst – wo eher das Größenklein?


🤲 2. Körperfokussierte Übung (20 Minuten)

„Die Haltung meines inneren Musters“

Anleitung (Einzelarbeit oder in 2er-Beobachtungsgruppen):
  • Stelle dich auf den Boden und finde zwei unterschiedliche Körperhaltungen:

    1. Deine Körperhaltung im Modus „Ich muss stark, leistungsfähig, perfekt sein“

    2. Deine Haltung im Modus „Ich bin klein, unwichtig, ich darf nicht auffallen“

➡️ Spüre:

  • Wie verändert sich dein Atem?

  • Welche Körperregionen melden sich?

  • Was passiert mit deinem Blick, deinen Schultern, deiner Stimme?

👉 Teile danach mit deinem Gegenüber, was du wahrgenommen hast. Wer beobachtet hat, gibt achtsam Feedback (ohne zu interpretieren).


🧠 3. Satzergänzungen & Schreibimpuls (15–20 Minuten)

Gib den Teilnehmer:innen ein Handout oder diktiere die folgenden Satzanfänge:

Größenselbst:

  • Ich funktioniere besonders gut, wenn …

  • Ich habe Angst, dass ich ohne Leistung …

  • Ich mag nicht zeigen, dass ich eigentlich …

Größenklein:

  • Ich neige dazu, mich klein zu machen, wenn …

  • Ich war als Kind immer …

  • Ich wünsche mir manchmal, ich dürfte einfach nur …

Abschlusssatz:

  • Mein echtes Selbst wünscht sich von mir …

👉 Nach der Schreibphase: Kurze Stillrunde oder meditatives Lesen der eigenen Antworten.


🔄 4. Kleingruppen-Austausch (30 Minuten)

Gruppengröße: 3 Personen – je 10 Minuten Redezeit pro Person + Feedbackzeit

Strukturvorschlag:

  • Eine Person liest ausgewählte Sätze (frei oder vor)

  • Die anderen hören wertschätzend zu, spiegeln, was sie gefühlt oder beobachtet haben

  • Kein Ratschlag, kein „Coaching“ – nur Resonanz, vielleicht ein Satz wie:„Ich erkenne deinen Mut, dich in deiner Stärke/Verletzlichkeit zu zeigen.“


🌀 5. Symbolische Aufstellung (15–20 Minuten)

Optional – in Dreiergruppen oder im Plenum

Materialien: Stühle, Bodenanker, Karten oder Platzhalter mit:
  • „Größenselbst“

  • „Größenklein“

  • „Authentisches Ich“

Anleitung:Jede:r Teilnehmer:in darf sich intuitiv zu diesen drei Begriffen in Beziehung stellen – sich hinstellen oder einen Platz auswählen. Danach reflektieren:

  • Wie fühlt es sich an, zwischen diesen Positionen zu stehen?

  • Wo bin ich am häufigsten im Alltag?

  • Wo spüre ich Sehnsucht? Angst? Kraft?


💬 6. Abschlussrunde im Plenum (10–15 Minuten)

Fragen:

  • Was war heute überraschend für mich?

  • Was nehme ich mit – körperlich, emotional, gedanklich?

  • Welche „alte“ Haltung darf ich ehren – welche will ich loslassen?

📌 Materialien zum Vorbereiten

  • Schreibpapier & Stifte

  • Bodenanker oder Stühle für Aufstellung

  • Handout mit Satzergänzungen

  • Ev. Entspannungsmusik für Übergänge

 

🧠 Zitate von Hans-Joachim Maaz (zum Thema Normopathie, Größenselbst, Größenklein)

„Normopathie ist eine gesellschaftlich akzeptierte Störung, die als normal gilt, aber innerlich krank macht.“→ Einsatz: zu Beginn der Einheit, um den Begriff zu rahmen
„Das falsche Selbst funktioniert – aber es fühlt nicht.“→ Einsatz: nach der Körperübung oder als Übergang zur Satzergänzung
„Das Größenselbst ist der narzisstische Schutz gegen ein tief verunsichertes Ich.“→ Einsatz: theoretischer Input oder als Begleitsatz in der Kleingruppe
„Je mehr wir versuchen, ein idealisiertes Selbstbild aufrechtzuerhalten, desto weiter entfernen wir uns von unserem wahren Selbst.“→ Einsatz: als Reflexionsfrage oder Meditationseinleitung
„Die normopathische Gesellschaft produziert Menschen, die perfekt angepasst, aber innerlich leer sind.“→ Einsatz: kritische Einbettung gesellschaftlicher Dimensionen

🌿 Zitate von Carl Rogers (zur Selbstakzeptanz, Echtheit, innerem Wachstum)

„Was ich bin, ist genug – wenn ich es nur sein darf.“→ Einsatz: nach der Satzergänzungsrunde – zur Ermutigung
„Der seltsamste Widerspruch ist: Wenn ich mich so akzeptiere, wie ich bin – dann kann ich mich verändern.“→ Einsatz: in der Abschlussrunde oder zum Einstieg ins Authentische Ich
„Wachstum geschieht, wenn eine Person gesehen, gehört und ohne Bedingungen angenommen wird.“→ Einsatz: als Motto für die Kleingruppenarbeit oder als Handout-Titel
„Das einzige, was einen Menschen heilen kann, ist eine Beziehung, die ihn annimmt, wie er ist.“→ Einsatz: Einleitung zur Arbeit mit Beziehungsdynamiken in der Gruppe

🌱 Zitate von Erich Fromm (zur Entfremdung, zur Liebe und zum wahren Selbst)

„Der Mensch hat aufgehört, er selbst zu sein – und versucht, das zu werden, was andere von ihm erwarten.“→ Einsatz: zur Thematisierung von Anpassung & Maskierung
„Nicht die Norm ist gesund, sondern das, was der Mensch in der Lage ist zu werden.“→ Einsatz: zur Differenzierung von Normalität und Gesundheit
„Die größte Angst des Menschen ist nicht das Sterben – sondern das Leben als er selbst.“→ Einsatz: provokativer Einstieg für Selbsterfahrungseinheit
„Liebe ist die Kraft, die das Ich überwindet – ohne es zu zerstören.“→ Einsatz: Verbindung von innerer Arbeit und Beziehungsfähigkeit

📘 Tipp für den Einsatz in Ihren Settings:

💡 Mögliche Methoden:

  • Jeder Teilnehmer zieht zu Beginn oder am Ende ein Zitat aus einer "Zitate-Schale"

  • Ein Zitat als Einstieg in eine Imaginationsreise (z. B. „Was ich bin, ist genug...“)

  • Zitate als Wandkarten oder Kärtchen zum Aufstellen während der Übung

  • Als Inspiration für Journaling / therapeutisches Schreiben

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