💔 Wenn Liebe krank macht
- Thomas Laggner
- vor 7 Stunden
- 6 Min. Lesezeit
Toxische Beziehungen und die Diagnose F62.0
Was passiert, wenn eine Beziehung nicht nur belastet, sondern die Persönlichkeit verändert?
Toxische Beziehungen können Spuren hinterlassen – nicht nur im Herzen, sondern tief im Selbstbild, in der Wahrnehmung der Welt, der Fähigkeit zu vertrauen und in der Beziehung zum eigenen Körper. Manche Menschen schaffen es, nach einer toxischen Beziehung wieder aufzustehen und weiterzugehen. Andere bleiben gefangen – nicht in der Vergangenheit, sondern in einer dauerhaften Veränderung ihres Wesens. Hier setzt die Diagnose F62.0 – Andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung an.
📖 Was bedeutet F62.0?
F62.0 beschreibt eine psychische Störung, bei der sich die Persönlichkeit eines Menschen langfristig verändert, nachdem eine extrem belastende Erfahrung durchlebt wurde. Diese Erfahrung war so überwältigend, dass sie sich nicht durch normale Anpassungsprozesse verarbeiten ließ.
Typische Auslöser:
Langanhaltende emotionale Misshandlung oder Manipulation in Beziehungen
Gaslighting, Isolation, Demütigung – meist subtil, aber chronisch
Schwere Erkrankungen, Folter, Kriegs- oder Flüchtlingserfahrungen
Massive soziale Isolation (z.B. bei häuslicher Gewalt)
Der zentrale Punkt: Die Belastung liegt in der Vergangenheit, doch die Veränderungen bestehen fort – über Jahre hinweg.
🧠 Typische Symptome
Menschen, die unter F62.0 leiden, beschreiben oft:
Misstrauen gegenüber anderen, selbst ohne aktuellen Anlass
Emotionale Taubheit oder extreme Reizbarkeit
Rückzug und Bindungsambivalenz („Ich wünsche mir Nähe – aber sie macht mir Angst“)
Innere Leere oder das Gefühl, sich selbst verloren zu haben
Negative Grundhaltung: „Es wird sowieso wieder schiefgehen.“
Depressive Grundstimmung ohne klaren Auslöser
Verlust von Lebensfreude – selbst bei objektiv schönen Ereignissen
🔍 Abgrenzung zu anderen Störungen
Diagnose | Unterschied zu F62.0 |
PTBS | Akuter, wiederkehrender Stress durch Flashbacks oder Trigger – F62.0 betrifft die langfristige Veränderung der Persönlichkeit |
Depression | Stimmungsbild im Vordergrund – F62.0 verändert die Selbstwahrnehmung und Beziehungsmuster dauerhaft |
Persönlichkeitsstörung | Entsteht meist in Kindheit/Jugend – F62.0 nach klar definierbarem Trauma im Erwachsenenalter |
🧩 Fallbeispiel: Melanie M. (33)
Stefanie war vier Jahre in einer Beziehung, die von Manipulation, emotionalem Missbrauch und sozialer Isolation geprägt war. Nach der Trennung funktionierte sie nach außen: Job, Freundeskreis, Hobbies. Doch innerlich blieb ein Gefühl von Fremdheit.
Sie beschreibt:
„Ich spüre mich nicht mehr wie ich selbst. Als hätte ich mein Vertrauen in mich und andere verloren.“
Sie zieht sich zurück, meidet tiefere Beziehungen und beschreibt intensive Selbstzweifel. Ihre Symptome bestehen seit mehr als zwei Jahren – und lassen sich nicht durch eine depressive Episode allein erklären. Diagnose: F62.0.

🛠️ Wie sieht der therapeutische Weg aus?
Heilung ist möglich – aber sie ist langsam, tiefgründig und beziehungsorientiert. Therapieansätze beinhalten:
Ressourcenaktivierung: Was hat mir geholfen zu überleben?
Schematherapie: Arbeit mit inneren verletzten Anteilen („verlassenes Kind“) und Selbstkritikern
Therapeutisches Schreiben: Gefühle externalisieren, Erinnerungen neu rahmen
Narratives Reframing: Die Geschichte neu erzählen – mit Fokus auf Stärke und Selbstschutz
Bindungserfahrungen: Neue, sichere Beziehungen im Alltag zulassen und gestalten
🌱 Was Betroffene brauchen
Vor allem: Zeit, Geduld, und einen Raum, in dem sie nicht bewertet werden. Es braucht Menschen, die zuhören, ohne zu retten – und Therapeut:innen, die das langsame Tempo der Heilung aushalten.
🧭 Fazit
F62.0 ist mehr als eine Diagnose – sie ist ein stilles Zeugnis dessen, was Menschen durchgestanden haben. Wer sich nach einer toxischen Beziehung „nicht mehr wie früher“ fühlt, ist nicht schwach – sondern ein Mensch, der sich schützen musste.
Und genau dort beginnt auch der Weg zurück: bei der Anerkennung des Überlebens, der behutsamen Rückkehr zu sich selbst – und der Erfahrung, dass Beziehung auch heilend sein kann.
🧭 Was kann Lebensberatung leisten – und wo sind die Grenzen?
Lebens- und Sozialberatung (nach §119 GewO in Österreich) ist ein eigenständiges Beratungsangebot zur psychosozialen Unterstützung in Belastungssituationen – und kann für Betroffene einer toxischen Beziehung ein wertvoller erster Anker sein.
✅ Lebensberatung kann:
Stabilisierende Gespräche führen – Orientierung geben in Zeiten der emotionalen Verwirrung.
Zukunfts- und Zielfokussierung stärken – „Was will ich wirklich?“
Selbstfürsorge fördern – Alltag strukturieren, emotionale Überforderung abbauen.
Kommunikationsmuster reflektieren – z. B. „Wie sage ich nein?“ oder „Wie erkenne ich emotionale Manipulation?“
Entscheidungsbegleitung anbieten – etwa bei der Frage, ob Kontakt wiederaufgenommen oder beendet werden soll.
Ressourcen aktivieren – z. B. Kreativität, körperliche Bewegung, soziale Netzwerke.
Gerade nach einer toxischen Beziehung, wenn Betroffene noch keine Diagnose haben oder den Begriff „Psychotherapie“ meiden, kann Lebensberatung ein niederschwelliger und entlastender Einstieg sein.
🚫 Lebensberatung darf nicht:
Diagnosen stellen oder psychische Erkrankungen behandeln.
Tiefe Traumabearbeitung leisten (z. B. bei Dissoziation, Flashbacks, strukturellen Persönlichkeitsveränderungen).
Arbeit mit inneren Anteilen im klinischen Sinn durchführen.
psychotische, suizidale oder schwere depressive Zustände begleiten.
🤝 Fazit der Abgrenzung:
Lebensberatung kann stabilisierend, klärend und stärkend wirken – aber wenn eine F62.0-Dynamik (dauerhafte Persönlichkeitsveränderung nach Extrembelastung) vermutet wird, ist Psychotherapie der richtige Ort für tiefergehende Bearbeitung. Eine gute Lebensberater:in erkennt das und stellt bei Bedarf achtsam und professionell den Kontakt zur Psychotherapie her.
🔍 Mögliche Hintergründe und Leiden von Täter:innen mit toxischem Verhalten
1. Unbewältigte eigene Bindungstraumata
Viele Personen mit toxischen Beziehungsmustern haben selbst in ihrer Kindheit oder Jugend unsichere oder überfordernde Bindungserfahrungen gemacht:
Vernachlässigung, emotionale Kälte oder Überforderung
Missbrauch oder Gewalt in der Herkunftsfamilie
"Parentifizierung" (Kind übernimmt Elternrolle) Diese Prägungen können zu unsicher-vermeidenden, ambivalenten oder desorganisierten Bindungsmustern führen, die in späteren Partnerschaften wieder aktiviert werden.
Leiden: Tiefe Angst vor echter Nähe, Kontrollverlust, Verlustangst oder Verschmelzungsangst.
2. Stark ausgeprägte Scham- oder Schuldabwehr
Viele Täter:innen wehren intensive Gefühle von Scham, Minderwertigkeit oder Versagen ab – indem sie:
die Schuld auf andere projizieren
kontrollieren, manipulieren oder abwerten (um sich überlegen zu fühlen)
ständig Recht behalten müssen
Leiden: Gefühl der inneren Leere, Identitätsunsicherheit, Selbstabwertung, Überkompensation durch Machtspiele.
3. Persönlichkeitsstörungen
Toxisches Verhalten kann im Rahmen von Persönlichkeitsstörungen auftreten, etwa:
Narzisstische Persönlichkeitsstörung: Bedürfnis nach Bewunderung, Empathiemangel, Entwertung bei Frustration
Borderline-Persönlichkeitsstörung: intensive Angst vor Verlassenwerden, emotionale Instabilität
Dissoziale Persönlichkeitsstruktur: fehlendes Mitgefühl, strategische Manipulation, Empathiedefizit
Leiden: Tiefe Identitätskrisen, massive Selbstwertunsicherheit, instabile Beziehungen.
4. Unbewusste Reinszenierung von Macht-Ohnmacht-Dynamiken
Manche Täter:innen wiederholen in Beziehungen ihre eigene Täter-Opfer-Erfahrung (z. B. aus der Familie). Dieses Verhalten ist oft unbewusst und kann sich zeigen in:
emotionaler Abhängigkeit
destruktivem Besitzdenken
unreflektierter Aggression oder Rückzug
Leiden: Unfähigkeit, Nähe ohne Dominanz oder Angst zu gestalten.
5. Emotionale Unreife / mangelnde Reflexionsfähigkeit
Nicht alle toxischen Verhaltensweisen sind Ausdruck tiefer psychischer Störungen – manche Menschen sind emotional unreif, unselbstreflektiert oder haben nie gelernt, konstruktiv mit Emotionen und Konflikten umzugehen.
Leiden: Unbewusste Reinszenierung kindlicher Strategien wie Trotz, Rückzug, Aggression – oft ohne es zu merken.
🎯 Wichtig für Beratung und Therapie
Achtsamkeit statt Verharmlosung:Das Erkennen des „Leidens hinter dem Verhalten“ darf nicht zur Entschuldigung oder Bagatellisierung von Gewalt, Manipulation oder emotionalem Missbrauch führen.
Aber: Es ermöglicht in therapeutischen Kontexten das tiefergehende Verstehen, etwa wenn ein Klient/eine Klientin in sich selbst toxische Anteile erkennt – oder wenn eine Paartherapie stattfindet.
🧩 Fazit
Täter:innen in toxischen Beziehungen leiden oft selbst – aber anders als die Opfer.Ihr Leid ist häufig unsichtbar, verdrängt, umgelenkt – oder wird durch Kontrolle, Rückzug oder Abwertungkompensiert.
Eine zentrale therapeutische Aufgabe lautet:
"Was wäre, wenn du deinem Partner nicht beweisen musst, dass du recht hast – sondern dich zeigst, wie du wirklich fühlst?"
🧩 Typologie toxischer Beziehungsmuster
Mit psychodynamischem Erklärungsansatz
1. Der Abwerter / Die Abwerterin
🗯️ „Du verstehst das sowieso nicht.“
Verhalten:
Chronische Kritik und Abwertung
Sarkasmus, Ironie, gezielte Demütigungen
Herabwürdigung von Meinungen, Werten, Körperlichkeit
Psychodynamik:
Selbstschutz durch Projektion: Eigene Minderwertigkeitsgefühle werden abgewehrt, indem andere klein gemacht werden.
Schamabwehr: Durch Entwertung anderer wird eigene Beschämung unbewusst reguliert.
2. Die/Der Kontrollierende
🗯️ „Wo warst du? Warum antwortest du nicht sofort?“
Verhalten:
Überwachung, ständige Nachfragen
Eifersucht, Besitzdenken
Manipulatives Verhalten: Schuldgefühle auslösen, Drohungen
Psychodynamik:
Verlustangst: Kontrolle kompensiert tief sitzende Angst vor Verlassenwerden.
Erlernte Macht-Ohnmacht-Dynamik: Oft aus Kindheitserfahrungen mit unberechenbaren Bezugspersonen.
3. Der Klammerer / Die Klammernde
🗯️ „Ich kann ohne dich nicht leben.“
Verhalten:
Übermäßige Verschmelzungswünsche
Angst vor Autonomie des Partners
Schuldzuweisungen bei Distanzverhalten
Psychodynamik:
Frühe Trennungstraumata oder Bindungsabbrüche
Unsicher-ambivalente Bindung: Nähe wird ersehnt, aber nicht als sicher erlebt.
4. Die Opferrolle / Der Schuldumkehrer
🗯️ „Du machst mich fertig.“
Verhalten:
Dramatisierung, ständiges Leiden
Schuldumkehr bei Konflikten
Stille Manipulation durch Rückzug oder Krankheit
Psychodynamik:
Passiv-aggressive Strategie, um Einfluss auszuüben, ohne Verantwortung zu übernehmen.
Erlerntes Überlebensmuster: Aufmerksamkeit durch Leiden erzwingen.
5. Der Idealisierer–Entwerter-Typ (Borderline-Dynamik)
🗯️ „Du bist alles für mich!“ → „Du hast mich zerstört.“
Verhalten:
Schwarz-Weiß-Denken (Idealisierung vs. Entwertung)
Extreme Gefühlsschwankungen
Intensive Nähe – gefolgt von plötzlichem Rückzug
Psychodynamik:
Frühkindliche Bindungstraumatisierung
Desorganisiertes Bindungsmuster mit Nähe-Angst-Überflutung und Autonomiekonflikt
6. Der Narzisstisch-Überhebliche
🗯️ „Ich weiß, was das Beste für uns ist.“
Verhalten:
Grandioses Auftreten, Dominanz, Abwertung anderer
Empathiemangel
Abwehr von Kritik oder Schwäche
Psychodynamik:
Fragiler Selbstwert, der durch Bewunderung stabilisiert werden muss
Verdeckte Scham wird nicht zugelassen – stattdessen: Überlegenheitsfantasien
📌 Anwendung in Beratung und Therapie
Ziel | Fragestellung |
Erkennen | Welches Muster zeigt sich? |
Verstehen | Was schützt dieses Verhalten innerlich? |
Abgrenzen | Wie kann das Gegenüber reagieren, ohne zu eskalieren oder sich zu opfern? |
Transformieren (therapeutisch) | Welche Ressourcen ermöglichen neues Verhalten? |
📚 Einsatzmöglichkeiten
Ausbildung Lebens- und Sozialberatung / Psychotherapie
Gruppenarbeit zu Beziehungsdynamiken
Selbsterfahrungsseminare
Paarberatung / Einzelarbeit
🚩 TOXISCHE BEZIEHUNGEN ERKENNEN & VERSTEHEN
1. Warnsignale (🚩Red Flags):
Extreme Eifersucht & Kontrolle
Ständige Kritik & Abwertung
Manipulation & emotionale Erpressung
Gaslighting (Realitätsverzerrung)
Isolation vom sozialen Umfeld
Schuldumkehr: „Du bist schuld!“
2. Typische Rollen & Dynamiken:
Täter/Opfer-Rollen
Drama-Dreieck: Retter – Opfer – Täter
Co-Abhängigkeit („Ich kann nicht ohne dich!“)
Nähe-Distanz-Konflikte
On-Off-Beziehungen (ständiger Wechsel)
3. Gefühle & Folgen:
Erschöpfung & Burnout („Es ist nie genug.“)
Angst, Schuldgefühle & Selbstzweifel
Verlust der eigenen Identität („Wer bin ich noch?“)
Körperliche & psychische Beschwerden
4. Lösungswege & Erste Schritte:
Grenzen erkennen & setzen
Realitätscheck (z.B. Außenperspektive einholen)
Unterstützung suchen (Therapie, Beratung)
Selbstfürsorge & Selbstmitgefühl stärken
Klarheit & Abstand gewinnen („Was tut mir gut?“)
👉 Merksatz:
„Beziehungen sollen wachsen lassen, nicht verletzen!“